Wie halbwegs kluge Menschen dazu beitragen, dass sich weniger kluge Menschen so richtig blöd fühlen

Etwas nicht können oder nicht gut können, ist keine Schande: Da ist sich die Gesellschaft zu großen Teilen einig. Geht es allerdings ums Lesen und Lernen, sieht die Welt schon wieder anders aus. Das ist schade. Und lässt fragen: Warum scheuen die Menschen sich so vor allem, was leicht verständlich ist? 

Man kann in unserer Gesellschaft handwerklich völlig unbegabt sein, nicht mal zwei Holzbretter zusammenschrauben können, auch nicht selbst für sich kochen oder eine Socke stopfen, ohne besonders abwertende Kommentare fürchten zu müssen.
In gewissen Kreisen gilt es regelrecht als schick, keinen einzigen Gesellschaftstanz zu beherrschen, und es ist selbst ausgewiesenen Bildungsbürger*innen erlaubt, kein einziges Musikinstrument zu beherrschen oder in Mathematik immer zwischen sein oder nicht sein mäandert zu haben. Ganz zu schweigen von defizitären sozialen und emotionalen Kompetenzen, wie beispielsweise minder entwickelter Empathie. Das alles darf in unserer gebildeten Welt vorkommen und gehört zur Vielfalt der menschlichen Spezies dazu. Sind halt nicht alle überall gut, na und?

Aber wehe, man ist nicht in hohem Ausmaß mit jenen Begabungen, und jenem sozialen, wie finanziellen Hintergrund ausgestattet, die es uns ermöglichen, eine erfolgreiche Schullaufbahn bis zum Studium hinzulegen. Wehe, man ist eher praktisch begabt und kein*e begeisterte*r Leser*in von Kindesbeinen an. Wehe, man hatte kein Elternhaus, das einen trotz Lernschwierigkeiten, notfalls mit Nachhilfe im Wert eines Kleinwagens, bis zur Matura durchtrug. Wehe, man kommt mit einer kognitiven Einschränkung zur Welt, dann ist’s vorbei mit der Toleranz der Vielfalt. Aber hallo!

Dann beginnt die – sackweise mit negativen Vorurteilen geölte – Zuschreibungs-Maschinerie (für die Intellektuellen unter den Leser*innen – das Attribuieren) anzufahren.
Wer Schwierigkeiten beim Lesen und Verstehen hat, dem wird in Bausch und Bogen Unwillen, Faulheit und Desinteresse unterstellt. Der Untergang des Abendlands wird heraufbeschworen, sollten wir uns dazu herablassen, solchen Menschen entgegenzukommen und Informationen so zu schreiben, dass sie diese auch lesen und verstehen können.

Am schlimmsten für die eigene Befindlichkeit scheint es ja zu sein, wenn man selbst – aus welchem Grund auch immer – mit einer Information, die besonders leicht verständlich geschrieben wurde, in Berührung kommt. Denn irgendwo im Subtext solcher Texte scheint versteckt zu sein, dass jeder Mensch, der sowas liest, ab sofort von allen für blöd erklärt wird.

Lese- und Lernschwierigkeiten haben in den wenigsten Fällen etwas mit Blödheit zu tun. Sie sind genauso wie musikalische, sportliche, praktische oder soziale Minderbegabung Ausdruck der Vielfalt menschlicher Natur. Selbstverständlich kann jeder Mensch sich mit Fleiß und Ausdauer auch bei einer Minderbegabung zumindest Basiskompetenzen erwerben, aber eben: Basiskompetenz ist nicht Virtuosität, Flohwalzer nicht Beethovens Klavierkonzert, Nordic Walken nicht Marathonlaufen, Spaghetti Bolognese nicht Haubenküche, leicht verständliche Texte nicht Ulysses. Aber beim Thema „lesen können“ fällt es uns so schwer, es zu akzeptieren. Das ist eigentlich richtig blöd.

Portraitfoto von Walburga Fröhlich zum Blogbeitrag über Mut

Walburga Fröhlich, CEO

Walburga Fröhlich ist CEO und Co-Gründerin von capito und verbindet als solche Unternehmertum mit Social Impact.

Gemeinsam mit ihrem Team hat sie capito zu einem der vielversprechendsten digitalen Start-ups Europas gemacht. Und will auch weiterhin hoch hinaus.

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